Der „runde Tritt" beim Radfahren - Mythos oder Realität

Abstract

 

Im Radsport wird dem runden Tritt als Technikleitbild eine hohe Bedeutung zugemessen. Der Beitrag beschreibt zunächst die theoretische Sicht des runden Tritts und untersucht dann mit biomechanischen Methoden das Trittverhalten von 8 bundesdeutschen Spitzenathleten der Disziplin Bahnrad. Mit einem dreidimensionalen Kraftmeßpedal wurden im Rahmen einer Leistungsdiagnose biomechanische Parameter wie z.B. der biomechanische Wirkungsgrad erfaßt. Die Ergebnisse zeigen, daß sich starke individuelle Unterschiede zwischen einzelnen Fahrern finden. Dem Leitbild kommt allerdings nur ein Fahrer relativ nah. Eine aktive Zugbewegung am Pedal kann nur bei einem Fahrer nachgewiesen werden. Die anderen Fahrer scheinen die Aufwärtsbewegung des Pedals als Erholungsphase zu nutzen. Grundsätzlich zeigt sich, daß mit zunehmender Leistung die biomechanischen Wirkungsgrade der Fahrer zunehmen, die Leistungserhöhung aber weitgehend durch zunehmende Kräfte in der Abwärtsphase des Pedals produziert wird. Eine isolierte Betrachtung des biomechanischen Wirkungsgrades zur Optimierung der Trittechnik wird als Ergebnis der Untersuchung nicht als sinnvoll angesehen. Eine Optimierung der Trittechnik muß auch immer die Prozesse der Energiebereitstellung berücksichtigen. Nur dann ist eine Interpretation des Leistungszustandes und der Leistungsentwicklung eines Athleten möglich.

 

Martin Hillebrecht / Ansgar Schwirtz / Björn Stapelfeldt / Wolfgang Stockhausen / Martin Bührle

 

 

Trittechnik im Radsport:

Der "runde Tritt" - Mythos oder Realität?

 

 

  1. Einleitung

 

Die sportwissenschaftliche Forschung im Radfahren hat eine lange Tradition. Schon früh erkannte man, daß das Radfahren unter Laborbedingungen auf Ergometern gut untersucht werden konnte. Standardisierte Untersuchungsbedingungen mit wiederholbaren Leistungsvorgaben und einfacher Meßwertaufnahme ergeben ideale experimentelle Voraussetzungen. Insbesondere die leistungsphysiologische Forschung brachte eine Fülle von Erkenntnissen hervor, die zur Leistungssteigerung von Radfahrern beigetragen haben.

Neben den rein physiologischen Aspekten ist insbesondere seit Mitte der 70er Jahre ein vermehrtes Interesse an biomechanischen Analysen entstanden. Die Verbesserungen der elektronischen Meßtechnik ermöglichen seit dieser Zeit biomechanische Untersuchungen beim Radfahren. Hier sind insbesondere Analysen der Trittechnik zu nennen, die sowohl im amerikanischen Sprachraum als auch in Deutschland durchgeführt wurden (vgl. GREGOR 1976; HULL/DAVIS 1981; DAVIS/HULL 1981; LAFORTUNE/CAVANAGH 1983; ZSCHORLICH 1989; von der OSTEN-SACKEN 1993; HENKE 1994). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen Aussagen über die Kraftverteilung über einen Umdrehungszyklus beim Radfahren zu. In verschiedenen Untersuchungen werden die Ergebnisse von Trittechikuntersuchungen herangezogen, um durch biomechanisches Feedback den runden Tritt zu erlernen (SANDERSON 1986, HENKE 1994; ZSCHORLICH/SIEMSEN/NEUMANN 1996).

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang der Vergleich von theoretischen Annahmen über die optimale Trittgestaltung ("runder Tritt") mit den experimentell gewonnenen Daten. Decken sich die theoretischen Annahmen mit den realen Meßwerten oder unterscheiden sich diese? Gibt es überhaupt den so oft postulierten runden Tritt oder welches Bewegungsverhalten kann als runder Tritt bezeichnet werden?

Zur Klärung dieser Fragen soll im folgenden der runde Tritt beschrieben werden, wie er in der Literatur zu finden ist, und dann mit fremden und eigenen Untersuchungsergebnissen verglichen werden.

 

 

2. Was ist der runde Tritt? Eine theoretische Annäherung

 

Die Pedalbewegung beim Fahradfahren erfolgt auf einer Kreisbahn. Befindet sich die Kurbel im oberen Totpunkt, beträgt der Kurbelwinkel 0°. Zeigt die Kurbel z.B. waagerecht nach vorn in Fahrtrichtung beträgt, der Kurbelwinkel 90°. Durch die Füße werden verschiedene Kräfte auf die Kurbel übertragen. Dabei sind grundsätzlich 3 Kräfte zu unterscheiden:

Vortriebswirksam wird nur die sogenannte Tangentialkraft. Sie wirkt immer rechtwinklig zur Kurbel und muß demnach je nach Kurbelwinkel auch ihre Richtung ändern. Die Radialkraft erzeugt keinen Vortrieb, sondern verursacht lediglich eine Längung bzw. Stauchung der Kurbel oder Reibung im Lager. Sie sollte demnach möglichst gering gehalten werden.

Beide Kräfte ergeben sich aus der resultierenden Kraft, die am Pedal angreift.

 

 

 

 

Abbildung 1: Am Pedal angreifende Kräfte

 

 

Biomechanisch wäre ein Optimum erreicht, wenn möglichst die gesamte resultierende Pedalkraft in tangentiale Kraft umgesetzt werden könnte. Gleichzeitig würde dies bedeuten, daß der biomechanische Wirkungsgrad 100% erreichen würde. Die resultierende Kraft würde vollständig in vortriebswirksame Kraft übergehen (vgl. Abb. 2).

 

 

Abbildung 2: Optimale tangentiale Kräfte in den einzelnen Sektoren einer Kurbelumdrehung

 

 

Der biomechanische Wirkungsgrad wird als das Verhältnis zwischen der Summe der Tangentialkraft über eine Umdrehung und der Summe der resultierenden Kraft über eine Umdrehung definiert (vgl. DAVIS/HULL 1981; LAFORTUNE/CAVANAGH 1983; ZSCHORLICH 1989; HENKE 1994; ZSCHORLICH/SIEMSEN/NEUMANN 1996):

 

 

Als prozentualer Wert kann der biomechanische Wirkungsgrad angeben, wieviel der eingesetzten Kraft in Reibung bzw. Längung und Stauchung der Kurbel verloren geht. Ein Wirkungsgrad von 50% hieße, daß nur die Hälfte der insgesamt eingesetzten resultierenden Kraft tatsächlich Vortrieb erzeugen würde. Als ein Beurteilungskriterium für die Güte der Bewegungstechnik der Radfahrers kann der biomechanische Wirkungsgrad deshalb herangezogen werden.

Häufig wird die Trettechnik über die Kurbelumdrehung noch in vier Sektoren beschrieben. Diese teilen sich nach den Bewegungsaktionen auf, die in den jeweiligen Sektoren erfolgen sollen (vgl. Abb. 2). Befindet sich die Kurbel kurz vor dem oberen Totpunkt muß der Fuß nach vorn geschoben werden (Schub-Phase). Anschließend wird das Pedal nach unten gedrückt (Druck-Phase). Es folgt eine Zugbewegung des Fußes nach hinten (Zug-Phase), bevor das Pedal und der Fuß nach oben angehoben werden sollen (Hub-Phase). Würde man eine biomechanisch optimale Tretbewegung anstreben, müßten in allen Sektoren möglichst vortriebswirksame Kräfte wirken. "Für die radsportliche Trettechnik hat dies zur Folge, daß nicht nur bei der abwärtigen Kurbelbewegung Druck auf die Pedale augeübt, sondern auch bei der Aufwärtsbewegung der Kurbel in der sogenannten Zugphase (Zug-Hub-Phase, Anm. d. Autors) vortriebswirksame Kräfte erzeugt werden sollten" (HENKE 1994, 31). Eine gute Trettechnik ist demnach durch Druckkräfte in der Abwärtsbewegung des Pedals und Zugkräfte während der Aufwärtsbewegung des Pedal gekennzeichnet. Vortrieb wird dann nicht nur während der Abwärtstretbewegung erzeugt, sondern auch, wenn das Pedal wieder nach oben läuft. Ein derartiges aktives Bewegungsverhalten müßte den biomechanischen Wirkungsgrad deutlich gegenüber einem passiven Verhalten in der Hub-Phase verbessern. Das aktive Ziehen in der Pedalaufwärtsbewegung wird im allgemeinen als wesentlicher Bestandteil des runden Tritts betrachtet. So achten viele Trainer zur Beurteilung des Trittes eines Fahrers auf das Verhalten der Kette während des Tretzyklusses. Zeigt die Kette Phasen der Entspannung in der Hub-Phase, wird dies als mangelnder Zug am Pedal und als unrunder Tritt interpretiert.

 

 

  1. Empirische Ergebnisse zur Kraftverteilung über einen Kurbelumdrehungszyklus

 

In einer Reihe von Untersuchungen wurde die Trettechnik von verschiedenen Autoren betrachtet (HULL/DAVIS 1981; DAVIS/HULL 1981; LAFORTUNE/CAVANAGH 1983; SANDERSON/CAVANAGH 1988; ZSCHORLICH 1989; KAUTZ/FELTNER u.a. 1991; HENKE 1994). Die Untersuchungen kommen meist zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Der typische Verlauf der vortriebswirksamen Kraft bzw. des erzeugten Drehmomentes über eine Kurbelumdrehung ergibt sich dabei wie folgt:

 

 

Abbildung 3: Drehmoment-Verlauf über eine Kurbelumdrehung (KAUTZ/FELTNER u.a. 1991)

 

Sowohl bei Freizeitfahrern (LAFORTUNE/CAVANAGH 1983; ERICSON/NISSEL 1988) als auch bei Spitzenfahrern (LAFORTUNE/CAVANAGH u.a. 1983; CAVANAGH/SANDERSON 1986) ergeben sich sehr ähnliche Ergebnisse (vgl. auch KAUTZ/FELTNER 1991). In den ersten 180° der Kurbelumdrehung werden hohe vortriebswirksame Kräfte erzeugt, danach nur noch geringe bzw. sogar negative vortriebswirksame Kräfte. Der Hauptvortrieb wird demnach im Sektor 2 erzeugt. Ein Ziehen am Pedal in der Aufwärtsbewegung läßt sich vereinzelt finden, hat aber nur einen relativ geringen Anteil am Gesamtvortrieb. Generell kann weiter ausgesagt werden, daß mit steigender Belastung insbesondere im Sektor 2 der Krafteinsatz erhöht wird und damit auch der biomechanische Wirkungsgrad ansteigt. Bezüglich der Trittfrequenz kann man feststellen, daß mit zunehmender Trittfrequenz die Kräfte fallen und der Wirkungsgrad ebenfalls niedriger wird. Bei geringen Umdrehungszahlen werden im Sektor 4 vermehrt höhere vortriebswirksame Kräfte festgestellt.

Problematisch beim Vergleich der einzelnen Untersuchungen ist die unterschiedliche Wahl der Versuchsbedingungen. So werden unterschiedliche Leistungen und Trittfrequenzen benutzt, die nur schwer miteinander vergleichbar bzw. oft nur wenig praxisrelevant sind (z.B. Tretfrequenzen von 60 oder weniger Umdrehungen pro Minute). Darüber hinaus differiert die Belastungsdauer in den einzelnen Untersuchungen. Die Qualifikation der Versuchspersonen unterscheidet sich deutlich in einzelnen Untersuchungen und auch die Anzahl der untersuchten Fahrer differiert stark. Untersuchungen mit mehreren Spitzenfahrern sind relativ selten.

Um zu Aussagen über Spitzenfahrer zu kommen, haben wir eine Untersuchung mit bundesdeutschen Bahnradfahrern durchgeführt. Aus den theoretischen Überlegungen und den referierten Untersuchungsergebnissen lassen sich folgende allgemeine Erwartungen ableiten:

 

1. Wegen der extrem hohen Wiederholungszahlen bei der Tretbewegung sollte man annehmen, daß Fahrer der nationalen Spitzenklasse ein ökonomisches Tretmuster entwickelt haben. Aus biomechanischer Sicht wären demnach hohe Wirkungsgrade und insbesondere in der Aufwärtsbewegung des Pedals eine Zugbewegung am Pedal zu erwarten. Eine Umsetzung des runden Trittes sollte man hier am ehesten finden.

 

2. Bei ansteigender Belastung ist mit vergrößerten Wirkungsgraden zu rechnen. Da in anderen Untersuchungen insbesondere im zweiten Sektor Steigerungen des Krafteinsatzes bei zunehmender Belastung festzustellen sind, sollte auch der Wirkungsgrad zunehmen.

 

 

  1. Untersuchungsmethodik

 

Im Rahmen der interdisziplinären Leistungsdiagnose werden im Freiburger Radlabor auch biomechanische Untersuchungen durchgeführt, um Aussagen über den technomotorischen Leistungszustand eines Athleten machen zu können. Neben den physiologischen Daten tragen diese Werte zu einer verbesserten Einschätzung des Leistungsvermögens des Athleten bei.

An der Untersuchung nahmen 8 Bahnradfahrer der nationalen Spitzenklasse teil. Alle Fahrer sind 4000-m-Einzelverfolger bzw. Mitglieder des Bahnvierers. 6 der Fahrer kamen in Atlanta bei den olympischen Spielen oder bei den Weltmeisterschaften 1996 zum Einsatz. Neben anderen Tests müssen die Athleten in der Leistungsdiagnostik einen Stufentest absolvieren. Der Test beginnt bei 100 Watt. Nach jeweils 3 Minuten wird die Leistung um 20 Watt gesteigert, bis der Athlet den Test abbricht. Der Test wurde auf einem SRM-Hochleistungsergometer (Fa. Schoberer Rad-Meßtechnik) durchgeführt, das eine sehr genaue Regelung der Leistungsvorgabe ermöglicht (Meßfehler < 5%). Parallel zum Stufentest wurden mit einem dreidimensionalen Meßpedal am rechten Fuß die aufgebrachten Kräfte gemessen. Mit zwei Winkelgebern erfaßten wir zusätzlich die Winkel der Kurbel und des Pedals (Meßfehler < 1°). Diese werden zur Berechnung der vortriebswirksamen und radialen Kräfte benötigt. Alle anfallenden Daten wurden mit 1000 Hertz Einzugsfrequenz erfaßt und auf Festplatte abgelegt. Die Berechnung der Kräfte erfolgte anschließend mit einer speziell entwickelten Auswertungssoftware.

Im folgenden sind einzelne Ergebnisse dieser Untersuchungen zur obigen Fragestellung zusammengefaßt.

 

 

5. Untersuchungsergebnisse

 

5.1 Trittverhalten bei gleicher Belastung

 

In Tabelle 1 sind die von den Fahrern erreichten Wirkungsgrade über eine gesamte Kurbelumdrehng und in den einzelnen Sektoren einer Kurbelumdrehung aufgelistet. Alle Angaben beziehen sich auf die Leistungsstufe bei 300 Watt. Diese Stufe wurde ausgewählt, weil sie von allen Fahrern absolviert wurde. Außerdem entsprechen 300 Watt schon einer Belastung am Übergang zur anaeroben Schwelle und stellen damit eine intensivere Belastung dar.

 

 

Name

Gesamt

Sektor 1

Sektor 2

Sektor 3

Sektor 4

A

50.82

74.57

90.22

29.28

-59.58

B

45.50

66.76

90.82

22.07

-60.90

C

60.88

37.65

92.89

34.99

25.27

D

41.93

37.96

89.61

22.39

-66.54

E

35.88

14.32

89.74

24.75

-47.03

F

44.95

23.43

91.16

37.56

-54.46

G

44.07

39.48

90.48

23.96

-48.99

H

39.67

35.29

91.69

29.20

-57.59

 

Tabelle 1: Wirkungsgrade [%] über eine Umdrehung und in einzelnen Sektoren bei 300 Watt

 

 

Aus der Tabelle 1 wird ersichtlich, daß bei Spitzenfahrern Wirkungsgrade zwischen 35 und 60% über die Gesamtumdrehung zu finden sind. Die größten sektoriellen Wirkungsgrade werden im Sektor zwei erzeugt, da dort die biomechanischen Voraussetzungen für hohe Wirkungsgrade sehr günstig sind. Nur bei Fahrer C finden sich positive Wirkungsgrade im vierten Sektor. Bei allen anderen Fahrern lastet das Bein eher passiv auf dem Pedal und zieht nicht an diesem, was sich in negativen Wirkungsgraden ausdrückt. Zum Vergleich sind die Tabellenwerte noch einmal in der folgenden Abbildung grafisch dargestellt.

 

 

Abbildung 4: Wirkungsgrade der Fahrer A-H bei 300 Watt über eine Umdrehung (Gesamt) und in einzelnen Sektoren [%]

 

Dieses Ergebnis wird weiter verdeutlicht, wenn man die Entwicklung der vortriebswirksamen Kraft über einen Umdrehungszyklus grafisch betrachtet. Hier wird sichtbar, daß die meisten Fahrer ab einem Kurbelwinkel von ca. 200 Grad keine positiven vortriebswirksamen Kräfte mehr erzeugen. Wiederum weist lediglich Fahrer C über einen größeren Winkelbereich positive Vortriebskräfte auf. Negative Kräfte bedeuten in diesem Fall, daß das Bein passiv auf dem Pedal lastet. Auffällig ist das Verhalten der Fahrer C, E und F. Sie erzeugen erst ca. 20-30 Grad nach dem oberen Totpunkt einen deutlichen Kraftanstieg. Dieses Bewegungsverhalten verringert die Fläche unter der Kurve und damit den Impuls. Es ist somit eher als ungünstig einzuschätzen, anzustreben wäre vielmehr ein möglichst früher und steiler Kraftanstieg (vgl. ZSCHORLICH 1989).

 

 

Abbildung 5: Verlauf der vortriebswirksamen Kraft (Ftangential, [N]) von allen Fahrern bei 300 Watt

 

 

Auch bei den Maximalwerten der vortriebswirksamen Kraft zeigen sich Unterschiede bei den Fahrern. So erreicht Fahrer G nur einen Maximalwert von 336,5 N, während Fahrer B 416,3 N entwickelt. Es ergibt sich zudem ein leicht negativer Korrelationskoeffizient von -0,28 zwischen den Maximalwerten der Tangentialkraft und den Gesamtwirkungsgraden, der allerdings nicht signifikant wird und wegen der niedrigen Zahl der Probanden nicht überinterpretiert werden darf.

 

 

Abbildung 6: Maximalwerte der Tangentialkraft [N] von allen Fahrern bei 300 Watt

 

 

Betrachtet man die prozentuale Verteilung der Vortriebserzeugung über eine Umdrehung, stellt man fest, daß mehr als 70% des Gesamtvortriebs in Sektor zwei entsteht. Zusätzlich erzeugen die meisten Fahrer im dritten Sektor noch weitere 15-20% des Gesamtvortriebes. Dies ergibt sich aus den Winkelgraden von 135- ca. 200 Grad, wo noch positive Vortriebskräfte erzeugt werden. Im vierten Sektor, der unter biomechanischen Gesichtspunkten von besonderem Interesse ist, findet sich lediglich bei einem Athleten ein positiver Beitrag zum Vortrieb. Nur Athlet C kann 3,7% seines Gesamtvortriebes in diesem Sektor aufbringen.

 

Abbildung 7: Prozentuale Verteilung der Vortriebserzeugung in einzelnen Sektoren

 

 

5.2 Trittverhalten bei ansteigender Belastung

 

Wie in den Erwartungen geäußert, finden sich bei ansteigender Belastung auch ansteigende Wirkungsgrade. Die Entwicklung verläuft bei allen Fahrern nahezu parallel.

 

 

Abb. 8: Entwicklung der Wirkungsgrade über die einzelnen Stufen (100-460 Watt)

 

Daß sich diese Steigerungen des Wirkungsgrades hauptsächlich aus der Steigerung des Krafteinsatzes im zweiten Sektor ergibt, kann man erkennen, wenn man den Verlauf der Tangentialkraft über eine Umdrehung bei verschiedenen Leistungsstufen aufträgt. Beispielhaft sind die Tangentialkräfte bei 200, 300 und 380 Watt der Fahrer C und H dargestellt. Man erkennt den deutlichen Anstieg der Tangentialkraftmaxima im zweiten Sektor, während im vierten Sektor nur geringe Veränderungen bei Fahrer C festzustellen sind. Außerdem beginnen die Fahrer früher mit dem Krafteinsatz, was zusätzlich zur Vergrößerung der Fläche unter der Kraft-Winkelkurve beiträgt.

 

 

 

 

 

Abb. 9 Verlauf Tangentialkraft bei zunehmender Belastung

 

 

  1. Diskussion der Ergebnisse

 

Obwohl es sich bei den untersuchten Probanden um eine relativ homogene und hoch qualifizierte Gruppe handelt, findet man deutliche Unterschiede in einzelnen biomechanischen Parametern. So zeigen die großen Differenzen in den Gesamtwirkungsgraden, daß selbst bei Spitzenfahrern große bewegungstechnische Unterschiede bestehen. Wirkungsgradunterschiede von fast 25% müssen als erheblich angesehen werden. Ein Wirkungsgrad von 35% bei 300 Watt ist aus biomechanischer Sicht als relativ ungünstig zu beurteilen. Derartige Werte erreichen bei gleichen Leistungsvorgaben Triathleten und wie wir aus eigenen Untersuchungen wissen, auch wenig trainierte Sportstudenten. Ein deutlicher Trend zu hohen Wirkungsgraden bei hoher Qualifikation, wie wir in unseren Erwartungen äußerten, läßt sich daher in unseren Untersuchungen nicht feststellen.

In der Gestaltung der Kraftverläufe über eine Kurbelumdrehung zeigen sich einige Gemeinsamkeiten. So erreichen alle Fahrer ihre Kraftmaxima für die Tangentialkraft bei ca. 90 Grad Kurbelwinkel, weil dort die biomechanisch günstigsten Bedingungen gegeben sind. Bei ca. 200 Grad fällt die Kraftkurve auf sehr geringe oder sogar negative Werte zurück. Größere Unterschiede finden sich im Sektor 1, wo einzelne Fahrer positive und andere negative Tangentialkräfte zeigen.

Im vierten Sektor, der für den runden Tritt als besonders bedeutsam angesehen wird, kann lediglich ein Athlet einen kleinen Beitrag zum Gesamtvortrieb leisten. Alle Fahrer scheinen diese Phase eher als Pausenphase zu nutzen und weniger zur Erzeugung von nennenswertem Vortrieb! Dies entspricht nicht der von uns anfangs geäußerten Erwartung.

Der runde Tritt, der durch eine aktive Zugbewegung am Pedal in der Aufwärtsphase gekennzeichnet ist, läßt sich in unseren Ergebnissen nicht finden. Hoch qualifizierte Fahrer erzeugen den Großteil des Vortriebs in der Abwärtsbewegung des Pedals. Sie zeigen höchstens eine Entlastung des Pedal in der Aufwärtsphase, jedoch keine aktive vortriebswirksame Zugbewegung. Selbst bei steigender Belastung werden große Änderungen der Kraftverläufe nur im Sektor 2 sichtbar. Im vierten Sektor finden sich nur geringe Veränderungen.

Dieses Bewegungsverhalten könnte aus biomechanischer und physiologischer Sicht als runder Tritt bezeichnet werden, da man davon ausgehen kann, daß Spitzenathleten sich dem Technikoptimum stark annähern. Es entspricht allerdings nicht dem biomechanisch als optimal bezeichneten runden Tritt.

Eine aus biomechanischer Sicht sinnvolle Zugbewegung kann aus physiologischer Sicht unter Umständen nicht als optimal angesehen werden. Für eine aktive Zugbewegung ist der Einsatz von hüft- und kniebeugenden Muskeln notwendig. Dieser zusätzliche Aufwand kann auf der biochemischen Seite zu negativen Effekten führen. ZSCHORLICH/SIEMSEN/NEUMANN (1996) weisen zurecht darauf hin, daß sich der Gesamtwirkungsgrad des biologischen Systems Radfahrer aus dem biomechanischen und dem physiologischen Wirkungsgrad ergebe. Eine Verbesserung des biomechanischen Wirkungsgrades muß demnach nicht zwangsläufig zu einer deutlichen Verbesserung des Gesamtwirkungsgrades führen, sondern kann sogar zu dessen Verschlechterung beitragen, wenn darunter der physiologische Wirkungsgrad leidet! Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die Ergebnisse von Längsschnittuntersuchungen. Erste Ergebnisse einer von uns angestellten Längsschnittstudie zeigen, daß Fahrer bei verbesserter physiologischer Leistungsfähigkeit z.T. sogar Verschlechterungen in den biomechanischen Wirkungsgraden zeigen. Ökonomisierungen in der Energiebereitstellung gehen dabei nicht einher mit Verbesserungen in der Trettechnik. Besonders problematisch erscheint in diesem Zusammenhang der Einsatz von biomechanischen Feedbacksystemen zur Verbesserung von biomechanischen Wirkungsgraden (SANDERSON 1986; HENKE 1994), wenn dabei nicht gleichzeitig die physiologischen Parameter kontrolliert werden. Eine Konzentration auf den vierten Sektor der Kurbelumdrehung scheint aus unseren Erkenntnissen hier nicht sehr sinnvoll zu sein. Lediglich eine Entlastung des Pedals sollte im vierten Sektor angestrebt werden. Da der Großteil des Vortriebs selbst bei Spitzenathleten in der Abwärtsphase der Tretbewegung erzeugt wird, sehen wir hier den Ansatzpunkt für biomechanische Optimierungen. Die Optimierung des Kraftanstiegsverhalten, der Breite der Kraft-Winkelkurve und der Kraftmaxima sind vielversprechender als eine lediglich am Wirkungsgrad orientierte Rückmeldung. Kleine Verbesserungen in diesem Bereich können auf Grund der günstigen biomechanischen Verhältnisse einen relativ großen Effekt bewirken.

Unsere Ergebnisse zeigen auch den hohen individuellen Ausprägungsgrad der Trittechnik bei einzelnen Athleten. Für Verbesserungen der Technik sind daher vermutlich auch individuelle Vorgehensweisen notwendig, die sich zum einen nicht starr an einem biomechanischen Technikmodell orientieren dürfen und zum anderen auch die Mechanismen der Energiebereitstellung berücksichtigen müssen. Nur ein interdisziplinäres Vorgehen, das sowohl biomechanische als auch physiologische Parameter berücksichtigt, kann dieses Problem angemessen bearbeiten.

 

 

7. Literatur

 

CAVANAGH, P.R. / SANDERSON, D.: The biomechanics of cycling: studies of the pedalling mechanics of elite pursuit riders. In: BURKE, E.R. (Ed.): The science of cycling. Champaign 1986, 91-122.

DAVIS, R.R. / HULL, M.L.: Measurement of pedal loading in bicycling: II. Analysis and results. Journal of Biomechanics 1981, 14, 12, 857-872.

ERICSON, M.O. / NISSEL, R.: Efficiency of pedal forces during ergometer cycling. International Journal of Sports Medicine 1988, 9, 118-122.

GREGOR, R.J.: A biomechanical analysis of lower limb action during cycling at four different loads. Unveröffentlichte Dissertation, Pennsylvania State University 1976.

HENKE, T.: Zur biomechanischen Validierung der Komponenten der Fahrtechnik im Straßenradsport. Köln 1994.

HULL, M.L. / DAVIS, R.R.: Measurement of pedal loading in bicycling: I. Instrumentation. Journal of Biomechanics 1981, 14, 12, 843-856.

KAUTZ, S.A. / FELTNER, M.E. / COYLE, E.F. / BAYLOR, A.M.: The pedaling technique of elite endurance cyclists: changes with increasing workload at constant cadence. International Journal of Sport Biomechanics 1991, 7, 29-53.

LAFORTUNE, M.A. / CAVANAGH, P.R. / VALIANT, G.A. / BURKE, E.R.: a study of the riding mechanics of elite cyclists. Medicine and Science in Sports and Exercise 1983, 15, 113.

LAFORTUNE, M.A. / CAVANAGH, P.R.: Effectiveness and efficiency during bicycle riding. In: MATSUI, H. / KOBAYASHI, K. (Eds.): Biomechanics, Volume VIIIB. Champaign 1983, 928-936.

SANDERSON, D.J.: An application of a computer based real-time data acquisition and feedback system. International Journal of Sport Biomechanics 1986, 2, 210-214.

VON DER OSTEN-SACKEN, E.: Runder Tritt in der Fahrradforschung. TH Aachen mißt Kraft. Radmagazin Tour 1993, Juli, 50-53

ZSCHORLICH, V.: Untersuchung des koordinativen Wirkungsgrades bei Radsportlern zur Bewegungsoptimierung im Techniktraining. Forschungsbericht BISp 1989 - VF 0407/06/13/89.

ZSCHORLICH, V. / SIEMSEN, K.H. / NEUMANN, F.: Echtzeit-Feedback zur Verbesserung der Koordination im Techniktraining des Radsports mit Hilfe von Parallelrechnern. Vortrag beim dvs-Symposium, Zinnowitz 1996.

 

 

 

 

Dr. Martin Hillebrecht, bis Anfang 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Sport und Sportwissenschaft in Freiburg, zur Zeit Leiter der zentralen Einrichtung Hochschulsport der Universität Oldenburg.

Dr. Ansgar Schwirtz, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Freiburg mit den Schwerpunkten Ski- und Radsport.

Björn Stapelfeldt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Freiburg. Koodinator der biomechanischen Betreuung für den Olympiastützpunkt Freiburg/Schwarzwald mit dem Schwerpunkt Radsport.

Dr. Wolfgang Stockhausen, ärztlicher Leiter der Abteilung innere Medizin und Leistungsdiagnostik am Sportmedizinischen Institut Frankfurt/Main, leitender Verbandsarztes der Bahnradnationalmannschaft des Bundes Deutscher Radfahrer.

Prof. Dr. Martin Bührle, Direktor des Institutes für Sport und Sportwissenschaft der Universität Freiburg, Leiter der Arbeitsgruppe Sportmotorik.

 

Anschrift der Verfasser:

Dr. Martin Hillebrecht, Zentrale Einrichtung Hochschulsport Uni Oldenburg, Uhlhornsweg 49, 26129 Oldenburg.

 

Diese Arbeit wurde vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft unter der folgenden Projektnummer gefördert: VF0407/06/04/97